Persönlicher Erfahrungsbericht
Antisemitismus und Rassismus im Militär
Von Benjamin
Ich heisse Benjamin und komme aus einer Familie, welche ihre Wurzeln in Zürich hat. Da ich den Schweizer Pass besitze, bin auch ich dazu verpflichtet, im Militär meinen Dienst zu leisten. Schon von klein auf wurde mir durch meinen Vater immer klargemacht, dass ich diese Pflicht auch wahrzunehmen habe. Nachdem ich das Gymnasium abgeschlossen hatte, rückte ich deswegen im Sommer 2019 unverzüglich in die Rekrutenschule in Kloten ein und war bereit, meinem Vaterland zu dienen.
Das Militär stellte sich aber sehr schnell sehr anders heraus, als ich es mir vorgestellt hatte. Dessen wurde ich mir schon ein paar Tage nach der Einrückung bewusst, als meinem Zug das inoffizielle Spiel „Hollywood Hollywood“ beigebracht wurde. Dieses ging folgendermassen: Wenn der Befehl „Hollywood Hollywood“ kam, hatten wir Rekruten zehn Sekunden Zeit, uns einen Witz auszudenken. Danach musste ein Rekrut im Daher stehen und allen den Witz vortragen. Wenn er es schaffte, die Wachtmeister zum Lachen zu bringen, war das Spiel gewonnen. Wenn nicht, mussten alle Liegestützen machen oder Runden rennen. Dieses Spiel wurde mehrere Runden wiederholt und schätzungsweise ein bis drei Mal pro Woche gespielt. Das Problem dabei jedoch: Die Witze waren immer extremst anstössig. Nur in zwei Fällen waren es meiner Meinung nach wirklich lustige Witze, sonst waren sie immer entweder sexistisch, rassistisch (hauptsächlich gegen Türken oder Schwarze) oder in acht von zehn Fällen antisemitisch.
Diese “Witze” und andere antisemitische Kommentare meiner Kameraden liessen mich nicht nur zweifeln, ob es eine gute Idee war, mich vor den anderen Rekruten als Jude zu bekennen, sie verletzten mich vor allem ziemlich. Irgendwann beschloss ich, Hilfe zu holen, denn ich wusste, dass ich es so nicht lange aushalten würde. Mein erster Gedanke war, mich an den Dienstweg zu halten und meinen Leutnant anzusprechen. Allerdings führte auch er mit uns dasselbe Spiel durch wie oben beschrieben, was mich dazu veranlasste, stattdessen die Armeeseelsorger der Kaserne anzurufen. Leider war aber der eine in den Ferien und der andere amtlich als Pfarrer unterwegs. Dieser konnte mir zumindest Auskunft geben, dass ich mich an den PPD (Pädagogisch Psychologischer Dienst) wenden sollte. Also schrieb ich einen Antrag an unseren Hauptmann, um einen PPD Termin zu erhalten. Dieser wurde mir aber mit der Begründung abgelehnt, dass ich mich an die Armeeseelsorge wenden müsse. Ich wandte mich nochmal an die Armeeseelsorge, welche mir kurzerhand mitteilte, dass der Hauptmann mir den Termin gar nicht verweigern dürfe. Danach musste ich etwa drei Wochen warten, bis ich endlich den Termin bekam, und jedes Mal, wenn ich mich danach erkundigte, erhielt ich keine Antwort.
Während dieser Zeit wurden die antisemitischen Kommentare nicht weniger.
Auf der Wochenendwache zum Beispiel musste ein Kamerade aus der Kompanie mit mir einen Eingang bewachen. Dieser stellte mir die Frage, wie Hitler so kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine Armee aufstellen konnte. Seine Theorie war allen Ernstes, dass Juden wie Rotschild und Rockefeller ihn finanzierten, damit er den Krieg und somit auch den Holocaust verüben konnte und damit die Juden für immer und ewig in der Weltgeschichte als arme Lämmlein gesehen werden konnten.
Ein anderes Mal war ich an einem Samstagmorgen mitten in der Kasernenreinigung, als ein paar meiner Kameraden ins Zimmer kamen und über die Gaskammer Witze rissen, die sie im Keller gefunden hatten. Das Gespräch drehte sich darum, wen sie dort drinnen alles vergasen würden.
Generell sprach mein Zug immer mal wieder gerne darüber, wie gescheit Hitler doch war. Oftmals erzählte man sich Geschichten darüber, welche raffinierten Erfindungen von den Nazis stammten, und ständig wurden in einem unserer Gruppenchats antisemitische Memes herumgeschickt, gefolgt von unzähligen pornografischen Videos und Fotos.
Wie tief die Diskriminierung in diesem Zug verankert war, wurde mir erst klar, nachdem ein Kamerade und ich während der Dienstgruppe in einen Streit geraten waren. Als er mich dabei als „Scheiss Jude!“ beschimpfte, hatte ich zuerst Angst, dass er von meiner Religion erfahren hatte und mich absichtlich diskriminieren wollte. Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass “Jude” für ihn als übliches Schimpfwort galt.
Natürlich waren die Kommentare und Witze nicht nur gegen Juden gerichtet. Einmal sprachen wir über einen Kollegen aus einem anderen Zug, welcher sich uns gegenüber als schwul geoutet hatte. Meine Zimmergenossen erklärten, dass sie angewidert seien, mit ihm die Dusche teilen zu müssen.
Somit war ich unendlich froh, als ich endlich mit dem PPD reden konnte. Aber auch sie halfen mir nicht gross, die Situation zu verbessern. Eher konzentrierten sie sich darauf, mir meine Optionen offenzulegen: Entweder könnte ich meinen Dienst ohne weiteres weiterführen oder aber einfach abbrechen. Ich fühlte mich keines Weges untauglich und wollte meine Pflicht deswegen auch weiterhin erfüllen können. Zudem sah ich auch nicht ein, warum ich mich anpassen müsse, anstatt dass man versuchte, die Umstände in meinem Zug zu verändern. Der PPD sprach auch kurz vom Zivildienst, worauf ich antwortete, dass ich zwar keinen Grund sah, wechseln zu müssen, es jedoch nochmals erwägen würde, falls sich die Situation nicht verbessern sollte. Daraufhin zeigten sich beide Ansprechpersonen extrem überrascht und reagierten mit einem lauten “Ohaa!”, als hätte ich durch meine eventuelle Zusage etwas falsch gemacht. Diese Reaktion half mir nicht weiter, mich in meinem Anliegen verstanden zu fühlen.
Auch nach dem Einführungstag für den Zivildienst war ich mir keineswegs sicher, ob ich das Militär verlassen sollte. Ich war schliesslich eingerückt, um wie jeder andere meinen Dienst zu leisten, und fand das Militär an sich nicht etwas durchgehend Schlechtes. Zudem machten mir unsere Aufgaben Spass, wie zum Beispiel die Zugschule, Kartenlesen, Funkgeräte bedienen oder manchmal auch PD.
Am nächsten Abend rief mich der Hauptmann am Abend nach dem Einführungstag in sein Büro. Statt mich aber ernst zunehmen, versuchte er mich zu zwingen, mich als Jude zu offenbaren, denn sonst würde er es für mich machen. Eine seiner Aussagen in diesem Gespräch war, dass auch die ultraorthodoxen Juden in Israel den Militärdienst leisten müssten. Meiner Auffassung nach meinte er damit, ich sollte mich nicht so “orthodox” anstellen. Das war für mich der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Am kommenden Samstag war es für mich klar, dass ich es hier nicht mehr aushielt. Ich sah weder einen Ausweg noch Hilfe in Sicht, womit mir nur noch der Zivildienst übrig blieb.
Diese Erlebnisse haben also dazu geführt, dass ich nun ein ganz anderes Bild vom Militär habe, als es mir mein Vater immer erzählt hat. Mir erscheint es nun nicht mehr glorreich, sondern komplett überholt. Ich halte es für völlig inakzeptabel, dass Diskriminierung in diesem Mass einfach so geduldet wird und dass ich trotz meinen vielen Bemühungen in keiner Instanz Unterstützung gefunden habe. Es mag nicht in jedem Zug so zugehen wie in meinem. Es gibt sicher auch ehrenwerte und respektvolle Hauptmänner, Leutnante und Wachtmeister, bei denen solche Situationen keinen Platz finden, davon bin ich überzeugt. Aber auch wenn Diskriminierung oft unbewusst passiert, ändert das nichts an der Tatsache, dass im Militär weiterhin eine Diskriminierungskultur gestattet wird. Ich sehe es ganz klar: Rassismus, Antisemitismus und Sexismus haben in einer Organisation, in der Jugendliche lernen, mit Waffen umzugehen, nichts zu suchen.
Als ich meine Geschichte meinem Onkel erzählte, riet er mir, alle Geschehnisse aufzuschreiben und in einem Bericht zusammenzufassen. Diesen sendete ich dem SIG (Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund), um zu erfahren, was man am besten nach so einem Vorfall unternehmen sollte. Der SIG reichte den Bericht dem Militär weiter und der Schulkommandant Klotens leitete eine Untersuchung ein, um diesen Fall zu klären. Daraufhin wurde ich als Zeuge eingeladen, um in Bern auszusagen. Nachdem dann bereits neun Monate vergangen waren, habe ich nochmal nachgefragt, wie die Untersuchungen stünden. Ich erhielt die Antwort, dass man keine Auskunft geben dürfe, aber einige Fälle des Jahres 2017 noch auf dem Tisch liegen würden. Nachdem ich so lange den militärkonformen Lösungsweg gewählt hatte, entschied ich mich, die Geschehnisse selbst zu veröffentlichen. Ich werde es nicht zulassen, dass diese Geschichte wie so viele andere in einem Aktenschrank in Bern verstaubt.

Benjamin
Mitglied der Jungen GLP